Gedächtnisraum St. Augustin
Weidener Generationen erinnern sich
Ein sozial-interaktives Projekt des Kunstverein Weiden
29.08.—26.10.14
Info
Meine Erinnerungen an St Augustin stammen aus den 1960er Jahren, das war die Zeit der weltweiten Jugendrevolution, die auch in Weiden ihre Zeichen zeigte, wo ich als Fahrschüler, aus dem entlegenen TBC-Getto Wöllershof kommend, auf das Augustinus-Gymnasium ging.
Meine Freunde, die diesen Zeitgeist verkörperten, allen voran Helge Weindler, der in Amberg schulisch gescheitert war, aber nach Gehör die Songs von Plattenspieler und Radio nachspielen konnte, und dem dann später das vergönnt war, von dem ich und andere träumten, eine Karriere als Künstler, als Kameramann, und das an der Seite von Doris Dörrie, die kamen aus dem Semi, wie man sagte, die offizielle Bezeichnung Augustiner-Seminar verwendete Niemand, wusste Niemand. Das Semi eben, man sprach es aus und es hört sich an wie Samy Davis Junior.
Helge starb 1996. Mit dem gemeinsamen Amberger Freund Ewald Hofmann, der wie Helge nach Schulabbruch eine Ausbildung als Fotograph machte, schuf er eindrucksvolle Aufnahmen des Semi, die das Schweizer Fotomagazin Camera brachte. Helges und Ewalds Fotografien waren nicht zu unterscheiden, einer fotografierte wie der andere. Ewald starb 1972 bei einem Attentat auf seine Person.
Im Semi holte ich ab und an, wenn der Bus pünktlich am Friedhof gehalten hatte, Helge ab, wo er im Raucherzimmer die letzten Minuten vor dem Schulgang freche, verwegene Sprüche klopfend wie vor dem Gang zum Schafott verbrachte, und ich holte ihn also ab und hatte noch den Rolling-Stones Song „Satisfaction“ im Ohr, der uns, die dicht gedrängt hockenden und stehenden Fahrschüler über das Radio im Omnibus beschallt hatte: wer Ohren gehabt hatte zu hören, der war jetzt für den heroischen Kampf gegen das Spießertum gerüstet.
Ein anderer Freund oder Kumpel hießt Piet, der in Norddeutschland riesige Schulprobleme gehabt hatte, von dem Helge lange noch sprach, und da war noch ein anderer, der von Beat Musik und Klassischer Musik gleichermaßen fasziniert war und gerne davon sprach, sich dabei abgezirkelt wie eine archaische Statue bewegte und sich das Gesicht puderte, und alle hatten lange Haare oder waren dabei, sie zu bekommen, wie die Vorbilder aus Liverpool. Auf dem Weg zwischen dem Sportplatz am Langen Steg und dem Augustinus-Gymnasium lag damals noch die Landgraf - Brauerei, deren Ausschank auf dem Rückweg vom Sport die Freiheitsdurstigen wie eine Barrikade stürmten.
So brachte ich, der Externe, der Hinterwäldler, dem zwischen der Omnibus-Ankunft und Abfahrt das tägliche Weiden einen Hauch von großer, weiter Welt vermittelte, das Semi nie mit den herkömmlichen Vorstellungen klösterlicher Lebens-Strenge in Verbindung. Im Gegenteil, die ganz eigenwillige expressionistische Architektur des Studien-Seminars mit ihren Spitzbögen und der Stumm-Film-Aura a la Murnau, die allmorgendlich Mundwerke voller starker Sprüche entließ und mittags nach der Schulfron auf einen Umweg übers Cafe Ritter schickte, erschien dem Einsamen vom Lande als Welten-Schwelle, als Initiations-Raum, als Nadelöhr für auserwählte Existenzen. So der subjektive Eindruck eines sich nach Gemeinschaft sehnenden Flüchtlings-Kindes Jahrgang 1948.
Und irgendwie war diese Auserwähltheit ja auch so gewollt und gedacht, und das Religiöse und die Amtskirche, die im Staate die vierte Gewalt war und gegen die der katholische Kriegsheimkehrer Heinrich Böll kritische Worte fand, war in ihrer den Alltag prägenden Kraft in den 1960er Jahren noch so normal, dass es einem gar nicht weiter auffiel. Ebenso normal war es, dass sich die jungen heiß gedachten kritischen Köpfe, die ihre Lektüre-Liste auf dem Index verbotener Bücher im Gemeinde-Schaukasten der Josefs - Kirche fanden, mit der Geistlichkeit im gymnasialen Religions-Unterricht stritten, Glaubens- und Gedanken-Mut verbanden sich zu steil aufragenden, Schwindel erregenden geistigen Architekturen, ein Gemeinsames im Widerspruch war es, es bot so viele Chancen:
wer setzt noch eins drauf, wer ist Atheist?! Wer hatte schon Sex, welches Mädchen am Augustinus-Gymnasium nimmt die Pille, Günther Grass schreibt die Blechtrommel, Henry Millers Bücher dürfen nicht an Unter-18-Jährige verkauft werden, Ausweis und Unterschrift, Vietnam und die Amerikaner, unsere Retter betreten als Napalm-Ritter die Bühne der Geschichte, Studenten-Unruhen weltweit, der Verkauf der Schüler-Zeitung „Forum“, die von Schülerinnen und Schülern am Augustinus-Gymnasium herausgegeben wird, ist innerhalb des Schulgebäudes untersagt.
Der Widerspruchs-Geist in der Schülerschaft schlägt in einer Nacht - und Nebel - Aktion
zurück, mit Eimern weißer Farbe und großen Pinseln, in lebensgroßen Lettern werden die gängigen links-politischen Parolen auf die spezielle Schulsituation hin umgeschneidert, ja lange ist es her, dass ich von der Bushaltestelle an der Semi-Mauer kommend am Portal des Gymnasiums einen ungewöhnlichen Auflauf feststelle:
Die Eingangs-Tafel, auf der Augustinus-Gymnasium steht, ist übermalt mit dem Wort Duschl - KZ.
Warum ich mir gerade das gemerkt habe? Impressionen, die alten Bilder bleichen aus, die Umrisse verschwimmen. Was bleibt, was wird wieder erinnert, Renaissance. Dazu Henry Miller, Künstler der sexuellen Revolution und der Freiheits-Front, deren Linie auch durch Weiden und das Semi ging:
The mission of man on earth is to remember... All happens only once, but that is forever. A toujours. Memory is the talisman of the sleepwalker on the floor of eternity. If nothing is lost neither is anything gained. There is only what endures. I AM. That covers all experience, all wisdom, all truth.
Wolfgang Herzer