DIE HERDE - LEFT INFO
Axel T Schmidt
29.10.—21.11.10
Info
Wer kennt dieses Bild nicht, wer hat sie nicht in den Tiefen seines mentalen Museums verinnerlicht, die vergoldeten Türme der Peter und Paul-Kathedrale in der Festung an der Newa!? So wie die ganze Stadt Petersburg, die einstige Hauptstadt des russischen Reiches, die als Stadt der Oktoberrevolution 1924 in Leningrad umbenannt wurde, Weltkulturerbe ist, ist dieses Bild ein Archetyp unseres Kulturkreises. In einer unsichtbaren Aureole scheint hinter den Türmen das Denkbild von Hammer und Sichel auf: Leningrad war der Eingang zur Groß-Bau-Stelle eines Neuen Menschen, deren Aktivitäten unter dem Kreuzzeichen der kommunistischen Diesseits-Religion 70 Jahre währten.
Die Arbeit „Die Herde/Left Info“, die wir in unserem Ausstellungsraum erleben, hat archäologische Qualität, sie bezieht sich auf ein Projekt, das Axel T Schmidt 1992 in Petersburg durchführte.
Axel T Schmidt war in diesem Zeitraum Dozent an der Petersburger Akademie, als Künstler der Wiener Galerie „Ausstellungs-Raum 10/20“ nahm er in diesem Zeitraum auch an der Biennale 92 der Stadt Petersburg teil. Sie kennen sicher einige seiner Arbeiten bereits: Panzerhase, Erd-Umfang, Tunnel/ Mühlberg, Weiden Schafft Leiden Schaft, Stiffenstuff, und jetzt Left Info.
Die Anfänge dieser Reihe datieren in den 1980 Jahren. Das Interesse an Archetypen, Schablonen, Gussformen, Vorgestanztem im Verhältnis zu individuellen und kollektiven Sichtweisen, Denk-Formen und Handlungs- Mustern ist ein bestimmendes Moment seiner Arbeit.
Im Fall von „ Die Herde/Left Info“ findet das in folgender Szenerie seinen Ausdruck: Baustelle, Verwitterung, Holzwege, zwei Holzwege, gegenläufig, dem Schema der Zentral - Perspektive entsprechend laufen sie spitz zu, Peng, da ist der Schnittpunkt der Parallelen im Unendlichen, Sinnbild der wissenschaftlich fundierten christlichen Heilslehre. Bauzaun und Stempel-Blöcke in Wiegeform, die gewellten Holzwege korrespondieren mit dem Auf und Ab der Wiegeformen und bringen die Weg-Benutzer beim Darübergehen via Takt und Körper-Kontakt mit den Stempel-Stelen und den in kyrillischen Buchstaben darauf geschriebenen Namen in einen Form - und Sinn – Zusammenhang: Feststellen, Feststempeln, Wasser und Wellen. Der Holzweg klingt unter den Schritten wie ein Xylophon, die Namen, irgendwo werden sie gerufen.
Den Arbeiten von Schmidt ist das Wort „Die Herde“ zugeordnet, genauer kann ich den Bezug von Bezeichnung und Bezeichnetem aufs erste nicht benennen, zwischen beidem klafft ein Sprung. Für die genauere Bestimmung erscheint es mir wichtig, den typografischen Gestus zu beachten, mit dem dieses Wort präsentiert wird, in diesem Gestus erst, erst in dem visuellen Inhalt, in dem sich die Aussage mitteilt, in der Schreibart des Wortes und seiner schriftbildlich ornamentalen Zuordnung zu Untertiteln und Ankündigungs - Daten treten für mich die künstlerisch relevanten Inhalte zu Tage.
Und ähnlich wie der Begriff „Die Herde“ viele Jahre schon Schmidts Arbeiten kontrapunktisch und in einer 1:1 unübersetzbaren Weise begleitet, taucht in der hier vorliegende Arbeit „Left-Info“ an verschiedenen Stellen der Installation eine ebenso rätselhafte spitz geschnittene, splitterige Schablonendruck - Form auf. In den Fotografien links und rechts auf der Bretterwand am Ende des Steges können Sie sie sehen. Was hat es mit diesem Flecken auf sich?
Der große Foto-Druck auf Leinwand gegenüber dem Bauzaun gibt weiterführende Impulse. Er zeigt im Farbton verblichener Fotografien ein Arsenal propagandistischer Gebrauchsgüter. Sowjetische Plakate und Spruchbänder und die Stempel, die West-Künstler Schmidt 1992 für seine künstlerische Arbeit verwendete, verbinden sich hier zu nahtloser Einheit. Was bei näherer Betrachtung erkennbar wird, ist: die rätselhafte Schablonendruck-Form, die immer wieder vor allem im Ausstellungsraum auf den Fotografien des heutigen Petersburg auftaucht, ist Lenins Linkes Auge. Aus dem Zusammenhang gerissen erscheint seine schwarze Form so bedeutungsvoll wie konstruktivistischer Kaffeesatz.
Sie entdecken Lenins Linkes Auge, das zu seiner Zeit als Scheinwerfer des Fortschritts wahrgenommen wurde, immer wieder in dem Bilder-Block mit Petersburger Impressionen auf der Rückwand des Ausstellungs - Raumes. Enigma. Schlüssellos. Schlüssel-Loch. Schlüsselloch der Seele Lenins. Schlüsselloch in die Dunkelheit der Massen-Seele. Schlüsselloch einer versunkenen Welt.
Das Wort „Die Herde“ lesen wir auf jeder der Fotografien. Stereotyp.
Das Wort an sich, das nur gesprochene Wort hat keinen das jeweilige Bild oder das Werk-Ganze definierenden Charakter wie es bei den Worten Malerei, Architektur, Bildhauerei, Installation der Fall wäre, es hat vielleicht den Lenk-Charakter eines Ausstellungstitels, der hier aber pauschal auf die ganze, zukünftig offene Ausstellungs-Reihe bzw das Work in Progress angewendet würde.
Im Einzelfall bleibt dabei seine Bedeutung seltsam vage und unbestimmt, daran ändert auch nichts der bestimmte Artikel „Die“. Wo liegt das Herdenhafte, das die einzelne Arbeit bestimmt und die Teile der Reihe miteinander verbindet, wir können uns alle spontan etwas unter dem Begriff der Herde vorstellen, aber erst, wenn wir uns auf das geschriebene Wort beziehen, wie Axel Thomas Schmidt es in seiner Typographie vermittelt, erkennen wir, worum es geht, dass es hier um etwas anderes geht als den Sachbegriff Herde, der landläufig den Verbund von Vierbeinern meint.
Und wenn Sie von der dumpfen, harten Aura der Ausstellung stimuliert den begriffgeschichtlichen Weg der Herde weiter ausleuchten wollen, so könnten wir auf die materialistische, massenpsychologische Bestimmung der Herde als ein instinktgesteuertes kybernetisches System kommen, auch im individuellen Willen seiner Einzel-Teile herrsche der Gattungswille, und wenn wir mit Descartes gingen, hätten wir es hier mit seelen - und geistlosen Bio-Apparaten zu tun. Die heutige Hirnforschung wüßte dem zu widersprechen. In der Höhle von Altamira würde sich die Magie dieses Wortes offenbaren. Es wird dunkel. Das Büchsen-Licht, das die lexikalische Genauigkeit des Artikels „Die“ suggeriert, will sich nicht einstellen. Wir starren in die Dunkelheit.
Zurück ins Lese-Licht: Prüfen wir folgende Möglichkeit: In dem Schriftzug „Die Herde“ tritt uns der Charakter eines Labels oder eines Totem-Zeichens entgegen, sprechen wir es nach, entsteht so etwas wie ein Mantra, ein reines, leeres Klang-Bild, das mit dem Klang Ihrer Schritte, meine sehr geehrten Damen und Herren, über den gewellten Bretter-Boden kommuniziert, ein Jingle. Mit beidem sind ein visuelles und ein akustisches Erkennungsmerkmal gegeben, die dafür stehen, was Axel T Schmidt seit vielen Jahren macht.
Er macht Kunst, über deren Eigenart jedoch schweigt sich der Wort-Verweis aus, statt etwas zu erklären hat er den Betrachter schon beim Lesen des Plakats unversehens und mitten hinein in die Rätselwelt bzw in die intuitiven Räume des Kunstwerks befördert, Learning by Doing, übergangslos sind Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, selber qua Blick-Kontakt „Herde“, Teil des Kunstwerks und seiner materiellen und ideellen Ebenen, und ohne Ihre vom Zufall gesteuerten Teilnahme würde das Kunstwerk nicht existieren. Die Koordinaten, die den gewöhnlichen inneren und äußeren Bezug des Betrachters zum Kunstwerk bestimmen, verschieben sich: Herde, ja was könnte das noch sein, das Vorstellungs-Bild, das auftaucht, will sich nicht mit großen Säugetieren, mit Pferden, Kühen, Antilopen füllen, erst wenn Sie die Ebene konkreter Dinge verlassen und das höchste Abstraktions-Niveau erklommen haben - da steht bei Wikipedia: „Sozial-Verband“ - , dann füllt sich das Bild, das auftaucht und und bis jetzt leer und weiß geblieben war, mit einem Schneegestöber konkreter, handelbarer Bedeutungen.
Wenn Sie dazu den Bilder-Zyklus betrachten, auf dem das Schriftbild eigen - und gleichwertig mit der fotografischen Darstellung und der Struktur des Formats korrespondiert, dann lässt sich „Die Herde“ am besten als Firmen-Name begreifen und Axel Thomas Schmidt tritt als Beauftragter besagter Firma auf. Ich möchte Ihnen gleich an dieser Stelle verraten, was hinter der Firma „Die Herde steht“, es steht ja immer noch etwas Anderes, Größeres dahinter, hinter Witt Weiden die Otto-Gruppe, hinter „Die Herde“ steht, frei mit Joseph Beuys gesprochen, der künstlerische Weinberg bzw die Honigfabrik des Herrn, die Idee eines humanen, kreativen und ganzheitlich orientierten Gemeinwesens, das jedwede Firmenkultur ins sich einschließt. Hier wären wir alle Künstler, Schöpfer und Wasserträger und glückliche Menschen.
Im orangefarbenen Overall hat Axel T Schmidt mehrere Tage im Auftrag dieser Firma in den Ausstellungsräumen Präzisions-Arbeit ausgeführt, und Sie haben vielleicht noch seinen Auftritt bei e.on in Erinnerung, da war es ähnlich, als er in der orangefarbenen Corporite Fashion mit großem Bohrer Eisblöcke perforierte, mit kochendem Wachs ausgoss und dies war nicht weit davon entfernt, wie ein Ritual zu erscheinen, es war eine Performance und Teil des Kunstwerks, ebenso wie Sie, das Publikum, in der Erscheinung als Quasi-Gemeinde zu Teilen des Aktions-Kunstwerkes geworden waren.
Schmidt studierte bei Eduardo Paolozzi an der Akademie der Bildenden Künste München und mit Paolozzi verbindet ihn der Bezug seiner Arbeit zu den Begriffsfeldern von Reproduzierbarkeit und Massen-Phänomen. Schmidts Einzelwerke umfassen in unterschiedlichen Anteilen Elemente skulpturaler, installatorischer, performativer, partizipatorischer Natur, ihre Verlinkung mit dem öffentlichen Raum bzw ihre Ausführung im öffentlichen Raum ist ein Wesens-Moment. Axel T Schmidt hat seinen künstlerischen Tool-Kasten um Elemente der Fake-Art, der Simulations-Art, der Appropriation-Art, der Kontext-Art erweitert.
Wir wollen uns nicht in Spitzfindigkeiten verlieren. Was kurz gesagt all diese bildnerischen Methoden mit Schmidts Methode verbindet, ist das besondere Verfahren, die Gegenstände der Abbildungs-Absicht nicht nur realistisch sondern in mehr oder weniger umfassender Art als ein faktisch in Zeit und Raum existierendes Realitäts-Echt-Bild wiederzugeben. Schmidt geht dabei nicht soweit wie Res Ingold, der gründete eine Fluggesellschaft, Ingold Airlines, eine Firma mit allem Drum und Dran, Schmidt arbeitet versteckter, das Firma-Bild, das seine Aktivitäten evoziert, ist nicht so kohärent wie das des Kollegen, doch es gibt eine Reihe bezeichnender Mosaiksteine aus dem Firma-Klischee: da geht es doch um Mengen und Massen, Standards und Rationalisierung, Fertigteile und Montagen, Organisation und Kommunikation, Transformation und Tradition, Logo und Label, statt Stil Corporite Designe. Und natürlich der Stempel.
Die Aura dieser Dinge weist in eine spezifische Richtung.
Und das, was bei dieser Art von Kunst, die im Leben selber gründet, neben den die Realität vortäuschenden Elementen des outfit und der betrieblichen Funktionsabläufe entscheidend hinzukommt, die Teilhabe oder mit dem Fachausdruck gesagt: die „Partizipation“ des Betrachters als Co-Akteur, dem in unserem Fall seine Ko-Autorenschaft meist gar nicht so bewusst sein dürfte, ist auch in Schmidts Arbeit fest verankert. Auf der Linie unmittelbarere Mitautorenschaft finden wir die Team-Arbeit, die nicht nur der technischen Notwendigkeit sondern einer inszenatorischer Absicht entspringt, wie sie beim Tunnel/ Mühlberg-Projekt, aber auch bei dem Schüler-Projekt „Weiden Schafft Leiden Schaft“ anschaulich wurde. Im Fall des Stempel-Projektes 1992, der Phase I des Projektes „Die Herde, Left Info“ war es die Zusammen - Arbeit mit Petersburger Jugendlichen, Kolleg/innen und Student/innen. 29 Namen real existierender Personen wurden mit Stempeln der Größe, die Sie an dem Baugitter im Ausstellungsraum angebracht sehen, an Wänden im Öffentlichen Raum der Stadt Petersburg aufgetragen. Die in den Primär-Farben leuchtenden, waagrechten Schriftzüge haben annähernd menschliche Lebensgröße, sie ergänzen sich mit der Vertikale des direkt davor stehenden Lesers zum Kreuz. Heute ist nur mehr an einer Stelle in Petersburg ein Stempelbild erhalten.Die Stempel sind ganz verschollen. Dies hier sind Nachbildungen.
Lenins linkes Auge saß damals noch fest im Plakat- und Fahnen-Konterfei des Revolutionärs, die kommunistische Welt war nicht mehr in Ordnung, aber vieles war noch an seinem Platz. Schmidt würde 2010 im Zusammenhang seiner künstlerischen Arbeit den Bild-Zusammenhang der kommunistischen Messias+Massenikone dekonstruieren.
Die 14 jährige Petersburgerin Sascha Demetova wäre seine Mitarbeiterin. Sie würde das heutige Petersburg nach subjektiven Gesichtspunkten, im offenen, nomadisierenden Unterwegssein portraitieren, sie würde ästhetische Arrangements suchen, in die sich Lenins Auge einfügen ließe, als Pass-Form für Bereiche jenseits totalitärer Aufpasserei. Schmidt würde jede der Aufnahmen aus dem heutigen historie-gesättigten und zukunftshungrigen Petersburg, die wir hier und jetzt als geschlossenen Block wahrnehmen, weiter bearbeiten. In einer waagrechten Rahmung aus Titel - und Daten-Zeilen im Corporite - Design seiner Firma „Die Herde“ würde die Bild – Motiv – Funde aus ihrer Unbestimmtheit herausgeholt werden. Die Zufalls-Beute-Stücke einer ungeplanten Foto-Safari würden dabei in einen bestimmten Zusammenhang mit der Firma treten, sie wären nicht nur Kennzeichen für Spontaneität, Offenheit, Kreativität, die Grundprinzipien der Kunst, sondern würden auch auf das Kapital der Firma „Die Herde“ verweisen. Jede Fotographie erschiene in der beschriebenen Bearbeitung als Plakat, das in Bezug auf das Bild etwas ankündigen würde. Aber was wäre das? Würde. Könnte. Wer kann in die Zukunft blicken. Lenins Linkes Auge, das Auge des allwissenden Hirten, das auf die Herde gerichtet war, ist heute blicklos geworden.
Ein weiteres Einstreuen der Werk-Interpretation ist hier bezüglich des Stempels angebracht: Mit dem Jahr 1992, 13 Jahre nach Mauerfall und Wende in der Folge von Glasnost und Peristrioika, ist ein besonderer zeitgeschichtlicher Kontext gegeben, der für die Bedeutung des Stempel relevant ist. Der Stempel in der Hand des Apparatschik ist ein Totalitarismus-Symbol, in seiner Winzigkeit existenz-vernichtend wie ein Geschoß, aus der Menschheits-Verbesserungs-Baustelle war der GULAG geworden, jetzt auf menschliche Körpergröße angewachsen, im Duktus der sich öffnenden Arme, wird der Stempel zum Instrument der Ent-Amtung des öffentlichen Lebens. Und wenn man an die Ursprünge sowjetischer Stempel- und Schablonen-Kunst in der Zeit von 1917 bis 1924 zurückgeht - Schmidt tat das und besuchte die graphische Sammlung in Petersburg - zurück in die Zeit der Wchutemas, der revolutionären Kunsthochschulen unter der Leitung der Moderne-Götter, Malewitsch, Tatlin, Rodschenko, Kandinsky, dann hätte das auch von Anfang an so sein sollen, dann war das die Vision von Moderne und Kommunismus, den großen säkularen Heilslehren des 19. Und 20. Jahrhunderts. Soviel zur unmittelbaren Autorenschaft bezüglich der Schmidtschen Arbeit.
Die indirekte Autorenschaft, in welcher der passive Betrachter, das schauende, sich versammelnde, sich bewegende Publikum zum unbewussten Akteur und gestalteten Gestalter wird, ist aufs erste nicht so offenkundig. Sie vollzieht sich in der Gleichsetzung von Name und Person, die sich auf der visuellen Ebene mittels gleicher Stempel- und Personen-Größe dann ergibt, wenn der Passant zum Betrachter wird, vor dem waagrechten Schriftzug stehen bleibt, liest, die Wort-Länge messend die Arme ausbreitet und wenn sich im Blick eines Dritten gestempelter Name und lesende Person zu einem Bild verbinden, zum Kreuz. Nun entsteht das eigentliche Kunstwerk, als Selbstläufer, ein Prozess ist initiiert, er ist autopoetisch, er läuft in einer Weise ab, die sich aus sich selbst heraus organisiert. Sie können in Bezug auf das Schmidt-Label auch sagen, hier entwickelt sich etwas in einer herdenhaften, dem kollektiven Instinkt entspringenden, die Grenze zwischen Mensch und Tier verwischenden vorrationalen, statistischen Gesetzen gehorchenden Weise. Das Bewusstsein von der Vielzahl der Stempel - und Kontakt-Stellen im öffentlichen Raum, das sich im kollektiven Bewusstseins der Stadt Petersburg exemplarisch für das Funktionieren von Gesellschaft aufzubauen beginnt und an dem zunehmend mehr Menschen quer durch alle sozialen Schichten teilhaben, lässt, ohne dass der eine vom anderen weiß, bis dato unbekannte soziale Räume entstehen, Spannungsfelder zwischen individuellem Ich und kollektivem Es, es akkumuliert sich geistige Potenzialität, Unbewusstheit kann in Bewusstheit umschlagen, man spürt sich als Teil einer anonymen Bezug-Gruppe, atmet den Odem der Revolution, den Wind des Aufbruchs, des Ausbruchs, Gesellschaft bildende Muster werden erkennbar, das Ornament der Masse, wie Siegfried Kracauer die aufklärungsresistente, mythologische Rückgebundenheit auch noch des modernen Menschen bezeichnet, tritt als ästhetische, vitalisierende Leerform vor unser geistiges Auge, die über eine allen Inhalten entsprechende Elastizität verfügt. Lenin erwartete den Umschlag von Massen-Bewusstsein in Klassenbewusstsein. Wir schreiten auf seinem Holzweg ein Spalier von lebensgroßen Namenszügen ab, jeder Schritt eine Kreuzung unserer Biographie mit den Biographien der anderen.
1992 kam Schmidt in Petersburg mit der aktuellen Lage der einstigen Mitglieder des Bauern - und Arbeiter - Staates in Berührung, und gleichzeitig entdeckte er via Besuch der Petersburger staatlichen Graphiksammlung die Kunst der Anfänge des kommunistischen Mensch-Um-Erziehungs-Projektes. Hier machte er eine Entdeckung, die für seine Arbeit folgenreich war. Die Synthese dieser Eindrücke sehen Sie auf der Leinwand im Mittelraum. Der Bildträger ist ein bedruckter Ausstattungs-Stoff für Wohnräume, das Druckmuster unter dem fotografischen Aufdruck ist kaum zu erkennen, es handelt sich um winzige Raketen, die in diagonaler Parallel-Formation die Fläche durchqueren. Das hervorlugende Plakat, auf dem Lenin hervorlugt, ist prototypisch, in ihm versinnbildlicht sich der Irrweg der Kunst, den Größen wie Malewitsch beschritten, als sie die Freiheit der Kunst zugunsten der Freiheit aufgaben und die Kunst als Mittel der Volksaufklärung und der Propaganda instrumentalisierten. In Klammern eine kleine Anmerkung: Die Freiheit der Kunst ist nicht nur ein Ost-Thema. Wie frei ist die freie West-Kunst nach zunehmendem Rückzug der öffentlichen Hand, den Abhängigkeiten von Image-Interessen des Firmen-Sponsorings und der Reiz-Schwellen-Höhe des Publikums. Das ist die Frage! Klammer zu! Zurück nach Petersburg. Zurück in der Zeit.
An Lenins Konterfei wurde über Jahrzehnte nachgebessert. Das ideale Zusammenpassen der im Einzelnen abstrakten graphischen Teile zur suggestiven Sinn-Gestalt Lenins beschäftigte die Geister mit einer Hingabe und Konzentration, die der Ikonen-Malerei in nichts nachstand. Davon zeugen die Devotionalien im Museum. Left Infos. Zurückgelassene Informationen. Uneingelöste Glücks-Versprechen. Was sagen sie uns heute?Und das Linke Auge? Left Eye. Kann man heute noch mit ihm sehen?
Lenins Linkes Auge, das ist an sich auch ein ausrangiertes Überbleibsel. Aber durch die Dekonstruktion der Urstruktur, der Freistellung ihrer Bestandteile, speziell der Neuverwendung des Augen-Blow-Ups in der Welt - und Wirklichkeits-Simulation des aktuellen Kunstwerks, gerät es wieder in den Zustand neuer Möglichkeits-Ansagen.
Was wie ein blinder Fleck aussieht, wie tote Schnipsel, ist etwas Schlafendes, etwas ewig schlafwandelnd Suchendes, etwas von Ur-Horden-Intuition und Herden - Instinkt Bewegtes, das jeden Moment erwachen und uns anblicken kann.