Idylle und Provokation
Realismus, alte Bekannte und Kunst aus der Metropolregion
Stewens Ragone & Annette Reichardt (Wesseling), Holger Lehfeld (Nürnberg) Malerei
15.04.—22.05.16
Info
Die Ausstellung Idylle und Provokation ist ein bildnerisches Trio über das Thema »Sehnsuchts-Welten«, das in den Gemeinschafts - Arbeiten der Kölner Annette Reichardt und Stewens Ragone und in den Arbeiten des Nürnberger Solisten Holger Lehfeld nicht nur allgemein als Human-Topos angesprochen wird, sondern auch spezifisch soziologisch verortet ist.
Es geht um die Short People, über die kleinen Leute bzw über das Zerrbild, das sich die anderen von ihnen machen. Randy Newman sinniert in seinem Album »Little Criminals« auch heute noch eindrucksvoll sarkastisch über diese Bevölkerungs-Schicht, auf die man gerne herabsieht.
Gemeint sind die stolzen Bausparer, die Bewohner von Einfamilienhäusern, Neubausiedlungen und Mietskasernen. Solche Leute könnten keine Lebensberechtigung haben, heißt es in dem Song von 1977 provozierend.
Aber hallo! sagt da Stewens Ragone, der Arbeitersohn mit italienischer Herkunft.
Plateau-Sohle, Eigenheim und Sportschau zeigen sich als Metaphern des Ankommens, der Sehnsucht nach der Größe und dem Sein als Mittelstürmer, die quer durch alle Gesellschaftsschichten und Kulturen die Menschen vereint und gleich macht.
Künstlerin und Künstler, alle drei Jahrgänge der 1960er Dekade, lassen somit in ihren Visionen Statusgefälle, Hackordnung und Klassenschranken außen vor und geben dem Elan Vital, der keinen Unterschied macht, in seiner Polarität zwischen melancholischer Introversion und extravertiertem Lust-Prinzip die Zügel frei.
Die integrative Kraft der Kunst, die hier sogenannte Hochkultur mit sogenannter Trivial-Kultur auf transkulturelle Art verbindet, tritt in einem Event aus Ragones Künstler-Vita mit besonderer Deutlichkeit hervor. Davon nicht zu erzählen, wäre schade.
Besagtes Event ist auch gerade deswegen beispielhaft und erzählenswert, weil es die persönlichen, ganz un-akademisch lebensweltlichen Beweggründe des Künstlers erhellt: Ragone, (ebenso Lehfeld), spielt Fußball.
Das rollende Leder verbindet, überbrückt.
Ragones Geschichte fand 2002 auf einem Bildhauer-Symposion der Künstlerhäuser Worpswede und der dort ansässigen Galerie Ruländer statt. Das Thema des Symposions war »Fußball«, und Fußball ist wie gesagt auch Ragones Leidenschaft, er hatte bis zum Bänderriss richtig professionell Fußball gespielt.
Der Spaß am Hoch-Kunst-Standort Worpswede inspirierte den Künstler, das Thema nicht nur bildnerisch-theoretisch zu bearbeiten, sondern sozusagen auch in Form einer praktischen Reflexion über die Metaphorik von Fußball als gesellschafts-Politische Metapher zur Darstellung zu bringen.
Die Idee war, den Geist so unterschiedlicher kultureller Domänen wie Sport, Kunst, Politik, Wirtschaft rund um`s Leder, das die Welt bedeutet, zur gemeinsamen Geisterbeschwörung auf einer realen Moor-Wiese zu versammeln.
Vertreter genannter Domänen folgten Ragones Ruf, formten sich zu Mannschaften, betraten zum gemeinsamen Spiel und zum Dasein als bewegtes Bild die Real-Bühne gesellschaftlichen Lebens.
Das organische Funktionieren einer Mannschaft ist wie ein Kunstwerk, eine kinetische Komposition, ein Sinnbild sozialer Integration.
Der Katalog, der das Ganze dokumentiert, trägt den sinnfälligen Titel »Unhaltbar«, und was man beim Blättern in seinem Inneren sieht ist unfassbar:
Bundeskanzler Gerhard Schröder beim Anstoß auf dem Worpsweder Rasen, Markus Lüpertz und seine Mannschaft Lokomotive Lüpertz, bestehend aus Herren der Kunstwelt, treten gegen die Ragone-Auswahl „Unhaltbar“ an.
»Unhaltbar« gewinnt 7:0.
Die Freiwillige Feuerwehr Worpswede macht zur Open-End-Feier Musik. Cross Over!
Da möchte man dabei gewesen sein!
Nicht traurig sein, Ähnliches können Sie jedes Jahr in im nahen Pertolzhofen erleben. Aus einem dort käuflich erworbenen Werk klingt es Ihnen nachhaltig aus den Sphären her entgegen, wo auch die Pertolzhofener Edelweiß-Kapelle aufspielt, wenn Ragone-Spezl Heiko Herrmann seine Kunstdinger-Tage veranstaltet, ein Künstlersymposion in der Oberpfalz, das seit mehr als 20 Jahren die ungeahnt integrative Kraft von Kunst demonstriert.
Frau Merkl allerdings war noch nicht dabei.
Das in Köln lebende Paar Annette Reichardt und Stewens Ragone macht im Leben und in der Malerei Fifty-Fifty, wie sie es in Bezug auf einen Frank Zappa Song nennen. Seit 13 Jahren entstehen ihre Arbeiten als Gemeinschafts-Werk, worin sie vielleicht auch ein Stückweit den kollektivistischen Gruppe-Spur-Geist ihres gemeinsamen Lehrers an der HbK Braunschweig HP Zimmer fortleben lassen.
Formal erlebt der Betrachter eine eigenwillige Mischung. Eine realistisch karikierende Figuration, in der die burleske Verschmelzungen von Tier-, Menschen- und Gebrauchsgegenständen an der Tagesordnung sind, geht da mit dem klassischen Aktion-Painting in den Gemälde-Hintergründen zusammen, das in den 1950/60 er Jahren als künstlerische Manifestation der freien West-Welt aufgetreten war.
Der Bild-Zusammenhang der Reichardt - Ragone Schöpfungen ist vielschichtig. Bei genauerer Betrachtung lässt sich eine Vorliebe für die massenmedialen Mythen und Idole erkennen, die in der deutschen Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit den Alltag bevölkerten.
Die ganze soziokulturelle Ikonographie dieser Zeit, die aus der Werbung, dem Bilderbuch, dem Nippes, dem Sport und den Posen des Fotoalbums bekannt ist, wird hier zum künstlerischen Rohstoff, der nicht mehr nur den Konsum-Wünschen der Weltkriegs-Überlebenden Gestalt gibt. Jackson Pollocks Bekenntnis zu kompromissloser Authentizität findet dabei als landschaftliche Kulisse und musikalische Notation Verwendung. Man kann Marsch-Musik, Jazz und die Kakaphonien der Neuen Musik gleichermaßen heraushören und Spuren lesen, die vielleicht vom äußeren Menschen zum inneren Taktgeber, der wahren Menschen-Natur, führen.
Vor diesem inhaltlich offenen, atmosphärisch spannungsvollen Background geben die im prallen Pathos der heute historischen Kino-Plakat-Malerei gemalten Szenerien meist Einzel-Personen oder kleineren und größeren Gruppen eine Bühne. Im zackig exaltierten Gestus des Vaudeville-Theaters scheint hier ein Nummer-Programm durchgeführt zu werden, in dem vor allem der soziale Status-Drang und Adlers Napoleon-Syndrom zu ihrem Recht kommt. Pose im fruchtbaren Augenblick. We are the Champions.
Der Alltag wird als dramatischer Non-Stop-Sieges-Zug zum Gipfel der guten Laune vermittelt, aus der Ferne grüßt vielleicht das HB-Männchen.
Es gibt eine Unzahl vorläufig bewältigter Krisen-Stationen mit Auto, Trockenhaube, Pistole Dreirad, Kochlöffel, die nun, wenn nicht einen strahlenden Sieger, so doch im gegebenen Rahmen eine große Rolle hervorbringen. Jedes Bild spiegelt das kurze Verharren am Point of no Return, das neu-anfängliche Auf-dem-Sprung-Sein im Schnappschuss.
Holger Lehfelds Szenerien spielen dagegen nicht auf einer surrealen Bühne, die alle Welt bedeutet, sondern unmittelbar in der gesellschaftlichen Wirklichkeit und sind inhaltlich klar definiert, sein Werk behandelt vielfach die gebaute Lebenswelt, die topographische Ordnung, in der sich der Alltag abspielt: der Betrachter findet Bilder, in denen die Architektur-Kulissen von Wohnen, Arbeit, Verkehr im urbanen Raum im Zentrum stehen .
Lehfeld allerdings liebt die blaue Stunde, den Augenblick der Absence, den Geschmack der verlorenen Zeit, der die Wirklichkeit von den funktionellen Zusammenhängen des Massen-Betriebs befreit und in das Reich magisch symbolischer Kräfte entführt. Ihr Medium ist die Farbe. Formal knüpft der Coldiz- und Angermann-Schüler immer wieder spürbar an die expressive Farbigkeit aus der Zeit des Blauen Reiters an, die vor einem Jahrhundert für ein naturaffines Aufbegehren gegen den Technik-Glauben der Moderne gestanden hat, während der thematische Kontext, in dem sie Holger Lehfeld heute verwendet, wohl eher Konformität und biedermeierlichen Rückzug verkörpert
Die verschiedenen Bereiche der Stadt-Landschaft, die der Betrachter mit dem Künstler vom Einfamilienhaus im Vorort bis zum Stadion im Stadtzentrum durchquert, sind zu jeder Tageszeit fast menschenleer, alles scheint sich symbolisch hinter den Mauern abzuspielen und dem lyrischen Ich die Vorfahrt zu lassen. Der Betrachter sieht erleuchtete Fenster, folgt Wegen, die durch das Neubauviertel und die abendlichen Parks führen, und stößt auf Straßen, die an Mietskasernen vorbei auf Brücken nach Nirgendwo lenken.
All diese Orte, die als Orte zwischenmenschlicher Kommunikation angelegt sind, glühen in den leicht identifizierbaren flächig aufgetragenen Sehnsuchts-Farben des Expressionismus, der dem europäischen Kultur-Kreis nicht nur einen Stil sondern auch eine symbolische Form des Aufbegehrens geschenkt hat.
Das Große Gefühl, das damit historisch verbunden ist, wird in Lehfelds Bildern auf die Zeitlosigkeit einer Heilen Welt herab gedimmt, die durch die Abstandsregeln der Bauordnung geprägt ist, melancholische Schauplätze der Selbstfindung bekommen hier Licht.
Nähe-Signale sind das, in denen sich die Poesie eine eigene Ordnung gibt. Hier weiß man um den sozialen Bänderriss, der infolge gefährlicher Hochsprünge droht.
Wie es der Mythos will, wird die Botschaft dieser Winke, im Raum der Verletzlichkeit mitzuspielen, nur von wenigen beachtet, anstatt, dass uns die blaue Blume der Romantik leuchtet, laufen im Fernsehen Tagesschau und Tatort.