MINIVERSUM
rioraum & kunstverein weiden
07.05. – 26.06. 2022
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe
Freundinnen und Freunde der Kunst und des kreativen
Lebens.
Eine Äußerung, die uns erstarren lässt, geht um: Wir
stehen vor dem 3. Weltkrieg. Die Lage scheint
aussichtslos, eine Sackgasse, ein Dilemma, die
Schreckensbilder des 2. Weltkrieges, der 1939
ausgebrochen war, mischen sich mit den Bildern, die uns
heute von ukrainischem Boden aus erreichen.
Einer der Emigranten oder Flüchtlinge, die 1939 Europa
verließen, war der französische Künstler Marcel
Duchamp. Er wollte nach New York. Was aber sollte aus
seinem ansehnlichen Werk werden, das er bisher
geschaffen und das ihn berühmt gemacht hatte. Unter
dem Druck der Lage, es zurücklassen zu müssen, oder
sich etwas einfallen zu lassen, kam er auf eine Idee, die
die Kunst insgesamt revolutionieren sollte.
Bekannt war er bereits geworden durch eine Entdeckung,
die nämlich, dass es nicht das Original- Kunstwerk, die
individuelle Schöpfung alleine ist, das die Kunst zur Kunst
macht, sondern vor allem das systemische
Zusammenspiel einer ganzen Menge von Faktoren, unter
denen das Meisterwerk nicht unbedingt die Hauptrolle
spielen muss.
Kunst wird vielmehr in einem Feld kunstbildender Kräfte
gemacht, als Geistiges in einem geistigen Raum, gemeint
ist ein sinnstiftenden Kontext, in dem die künstlerische,
alles umschließende Aura sichtlich auch dann noch
wirksam ist, wenn der Künstler selber keinen Finger
krumm macht. Genauso gut könne er Ready Mades oder
Objekt trouvees verwenden, will heißen, Natur- oder
Industrie-Erzeugnisse also Massenware und Abfall, deren
Produktionsstätte meist außerhalb des Ateliers liegt.
Z.B. Ein Urinal aus strahlendem Porzellan mit dem Titel
Fontäne.
Die schöpferisch-transzendierende Erweckungs-Macht
des Banalen zum Erhabenen hin, die von Licht und
Wärme der Libido-Projektion der Betrachter ausgeht, wie
Sigmund Freud es sagen würde, kannten bereits die
Romantiker, man denke an Novalis und Joseph von
Eichendorff, die davon sprachen, dass die in die Krise
geratene europäische Welt zwischen französischer
Revolution und industrieller Revolution durch die Poesie
zu romantisieren wäre und dass ein rettend Lied in allen
Dingen schlafen würde, Poesie statt Propaganda.
Duchamp machte zu seiner Zeit, der der Moderne, auf
seine Art die Probe aufs Exempel durch die Ostentation
eines Flaschentrockners, einer Schneeschaufel u.a.
reproduzierter fertiger Dinge, die er auf ein Podest stellte.
Auf der Ebene dieser Überlegungen fand er schließlich
zur Lösung seines Problems. Durch die Umwertung des
Begriffs vom Original-Kunstwerk war es auch denkbar
und legitim geworden, bezüglich Werkstoffs und Anzahl
mit variablen Größen zu operieren. Kunst hängt nicht von
Größe, Material und Menge ab. So Duchamp. Qua
winziger Reproduktionen konnte er sein Gesamtwerk in
Schachteln und im Reise-Koffer verstauen, Kunstwerke in
der Größe von Handschmeichlern, die auch noch genug
Platz für eine weitere Erfindung lassen, das für jedermann
erschwingliche Multiple, das Werk kostengünstig in
mehrfacher Auflage. Dem Geist der Sache hat das nicht
geschadet. Ganz im Gegenteil. Wir sehen: Kunst ist im
Kern demokratisch. Kunst lässt sich mit allem machen.
Jeder Mensch ist ein Künstler.
Mit dieser aus der Not geborenen „Schachtel im Koffer“
oder der „la boite en valise“ war eine neue Ära
europäischer Kunst angebrochen. Unter dem Zeichen der
Schachtel im Koffer veranstaltete der Kunstverein 2004
zum EU-Beitritt der osteuropäischen Staaten mit den
Professor*innen der Kunsthochschulen Prag und
Nürnberg ein Symposion zur Frage der Werte - und
Wirtschafts-Gemeinschaft Europa und der Rolle der Kunst
in diesem Zusammenhang. Die Ausstellung „Miniversum“
heute, die einer fruchtbaren Kooperative aus Rio-Raum
und Kunstverein entsprungen ist, könnte den Untertitel
„Hommage an Duchamp“ haben.
Etliche Motive, die im Obigen besprochen wurden, das
Motiv der Verkleinerung als Essenz-Steigerung, das Motiv
der Offenheit des Kunstbegriffs, das Motiv der
europäischen Krise zwischen den Großmächten und dem
Klimawandel klingen auch hier an,
Auch hier geht es auf ganz körperlich konkrete Art um die
Seins-Frage von Kunst. Durch die Raum-Leere, die durch
die Ausstellungs-Anlage explizit eigene Gestalt erhält,
und die Winzigkeit der Arbeiten, sind die Betrachter
gezwungen, wollen sie etwas sehen, extrem nah an die
Objekte heranzugehen, in die sinnliche Erfahrung zu
gehen und mit dem Objekt regelrecht zu verschmelzen.
Small is beautiful heißt es da mir Ernst Friedrich
Schumachers ökologischem Slogan aus den 1980ern, der
Dezentralität und die Rückkehr zum menschlichen Maß
proklamiert.
Dabei muss der betrachtende Mensch die visuelle
Distanz, den Corona-Sicherheits-Abstand zugunsten
haptischer Nähe und körperlicher Berührung und
Geborgenheit aufgeben, so dass die Klein-Bereiche des
Auftretens der Artefakte, wenn wir uns mutig wieder der
großen Gesamtheit zuwenden, den Charakter von Inseln
im Meer des Verschwindens, Vergessens und des
Unterwegsseins erhalten.
Wir stehen mit Duchamp an der Reling und blicken zum
Horizont hin in die Leere, in die Weite und Tiefe aus Luft
und Wasser.
Im Geiste mit von der Partie sind der Scheinriese Herr Tur
Tur, Jim Knopf und Lukas der Lokomotiv-Führer aus der
Kindergeschichte von Michael Ende.
Sie zeigen uns in der Inselwelt unserer Ausstellung, wie
man die Angst vor Scheinriesen und ihrer aufgeblähten
Riesenhaftigkeit, die mit der Entfernung zunimmt,
verliert.
Weil die Inseln so klein ist, kann dort Niemand so weit
von einander entfernt sein, dass er Angst vor Herrn Tur
Tur und anderen auch weniger freundlichen Scheinriesen
haben muss.
Wolfgang Herzer