Oliver Boberg
Fotografie
22.02.—24.03.02
Rätsel.
Seit Neujahr ist die Welt nicht mehr in Ordnung. Bilder von ihr, die wir bis dato liebgewonnen hatten, sind verschwunden, das Wertegefüge, das sich in deren blauen, braunen und grünen Gestalten verkörperte und unserem Denken Maß und Richtung gab, hat sich von seiner Realität gelöst und lebt nur mehr als Phantom in unserer Erinnerung weiter.
Was ist das?
Es geht um Realität. Hochgeistiges Thema, über das man - ein Traum der Aufklärung wird wahr - plötzlich auf allen gesellschaftlichen Ebenen spricht. Hammer und Herzer zB. allmorgendlich mit der Brötchenverkäuferin. Die Rede ist von der kollektiven Wahrnehmungsstörung, unter der Teile der deutschen, ja der europäischen Bevölkerung leiden, weil die alte Währung weg ist. DM Ade!
Ein visueller Code, der bislang soziale Identität auftat, existiert nicht mehr, das neue Zahlenschloß in der europäischen Haustüre klemmt; bei jeder Zahlung, wo früher an den Theken und Tischen daheim war, überfällt mich ohne den gewohnten optischen Schlüsselreiz das Gefühl, im Ausland zu sein. Original oder Fälschung? Ist der Euro Monopoly-Geld? Hurra Pittura Metaphysika, die Wirklichkeit outet sich als Modell und auf einmal erleben alle, wie sie Kaufladen spielen. Ach, wie lehrreich und bewußtseinserweiternd könnte das sein! Denn diese unechten Scheine lassen sich zwar an Schönheit nicht mit den Blauen, Braunen und Grünen a. D. messen, doch was unser Gegenstand, die Kunst, längst nicht leistet, nämlich den Pendelschlag zwischen Sein und Schein, Nichtigkeit und Transzendenz im kollektiven Bewußtsein zu verändern, ist dem pekuniären Bildwechsel zweifelsohne gelungen. Der Euro, der die Fülle unseres Vermögens bedeutet, wie sehr ist er in Wirklichkeit doch bloß Talmi, Klirren und Rascheln.
Zur Weiterbehandlung des Themas in der angemessenen kulturgeschichtlichen Tiefe empfehlen wir Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, den Besuch unserer Ausstellung mit Fotografien von Oliver Boberg.
Analog zum Geldwert, der ja in Form von Zahlen und Bildern auf Münzen und Scheinen unser Realitätsempfinden nachhaltiger, als wir gedacht hätten, eicht, verkörpert sich in den Bildern des Nürnberger Künstlers auch etwas spürbar Definitives, Gedankliches, vielleicht die Grundwerte einer kapitalistischen Raumordnung.
Da horcht man auf. Sollten es doch Ideen sein, die unser Bauwesen im Inneren bestimmen? Angesichts der bloßen Tatsächlichkeit, die Bobergs moderne Stadt- und Landschaftsarchitekturen ebenso wie den Himmel darüber zur Erscheinung bringen, meint der Betrachter, der sein Wertverständnis aus hartnäckigem Glauben an das Wahre, Gute und Schöne speist, diese Möglichkeit nicht zu erkennen.
Schockiert weicht er zurück vor der „Unwirtlichkeit unserer Städte“, wie die sozialpsychologische Negativ-Formel Alexander Mitscherlichs aus den 1960er Jahren nachhallt, und gleichzeitig hält ihn die kristallin-klassizistische Schönheit, die diese Zweckbau- und Bausparer-Veduten trotzdem nobiliert. Der Betrachter nähert sich Aufgängen, Eingängen, Ausgängen, Übergängen, Unterführungen, Kreuzungen, Sackgassen, Einfahrten, Kurven, Ecken, Wendeplätzen, Kanälen, die äußerlich nichts mehr mit dem Humanismus einer Villa Rotunda verbindet. Beton, Asphalt. Aber auch ein ästhetischer Mehrwert, über dessen Herkunft er sich nicht gleich Klarheit verschaffen kann. Lediglich eine Vielzahl Wege, die das Human-Kapital Tag für Tag in den ökonomischen Organismus verteilen, scheinen hier ihre idealtypische Gestalt erhalten zu haben. Doch die Wirklichkeit ist ganz anders. Alles aus Pappe. Boberg, der Maler, baut nämlich Modelle, Verkörperungen der Vorläufigkeit. Wolken aus Watte. Ein Freund fotografiert.
Der 1965 in Herten, Kreis Recklinghausen, geborene Schüler von Hans Peter Reuter, Professor für Malerei an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg und Hersteller kahler, gekachelter Raumillusionen, erweist sich in seiner eigenen Arbeit als Realist in der Nachfolge Constables (Wolken) und Colvilles (Lebensräume mit schlagschattenfreien Bewohnern). Die Verbindung, die wir zwischen dem jungen Wirklichkeitsprüfer unserer Tage, dem Zeitalter der Medien und der Simulation, mit diesen Protagonisten adlerscharfer Naturbeobachtung bzw sinnigen Bildaufbaus, wo nichts dem Zufall überlassen bleibt, erkennen, äußert sich schon mal in der Vorarbeit.
Analog zu den Romantikern und Malern der heroischen Landschaft, die auf ihrer Suche nach Freiheit in vielen Skizzen Gebirgsteile zur idealen Ganzheit, zum Sinnbild einer höheren Wirklichkeit ebenso wie zum Spott des bürgerlichmaterialistischen Duckmäusertums zusammen trugen, beginnt Boberg häufig als Fotosafarist der urbanen Grün-Kaputt-Steppen. In der Umsetzung seiner Realismus - Konzeption, die traditionsgemäß keine reine Tatbestands-Wiedergabe ist, folgen viele weitere Zwischenschritte.
Allmählich erst verdichtet sich in Recherche, Studie, Entwurf, Bau und Beleuchtung die Bildidee, eine Variation über das Thema „Goldener Schnitt und einstürzende Neubauten“. Die Gratwanderung zwischen illusionistischer Artistik und Rezjistik, die zwar die Skepsis nähren soll, keinesfalls aber die völlige Enttarnung der Potemkinschen Dörfer, Bobergs verblüffender Synthesen aus neuzeitlichhumanistischem Kompositionsprinzip und heutiger Billigbauform, herbeiführen darf, überhöht die Wirklichkeits-Wiedergabe endlich zur zeitgemäßen Interpretation. Boberg gelingen dabei Formulierungen, die nicht nur das zeitlos wichtige stoffliche Wesen der Dinge mit deren postmoderner Medialiät verbinden. Auch der Human - Wert des Interpreten, der selber 120 qm in der hier abgebildeten Welt bewohnt, steht beispielhaft zur Debatte. Er zahlt schließlich Miete.